OSTKREUZ

Das Labor der Lebensstile oder die Gegensätze der Gleichheit

von Julia Cornelius

Vom Ringbahnsteig aus eröffnet sich dem Reisenden ein wunderbar weiter Blick auf das unter ihm liegende Labyrinth aus schummrigen Treppenaufgängen, alten Überdachungen, bröckelnden Bahnsteigen und Fußgängerbrücken. Mittendrin die Arbeiter, Touristen, Studenten und Lebenskünstler auf ihren Wegen, vorbei am bunten Treiben rund um Imbissbuden und Kiosken im Schatten des alten, von der Zeit dunkel gewordenen Wasserturms; davor Brache und in weiter Ferne Hochhäuser.

Das Ostkreuz war und ist Ost-Berlins Hauptumsteigebahnhof für den Berufsverkehr auf der Schiene; eine riesige Baustelle für ein neues Verkehrskreuz bestimmt auf Jahre hinaus das Klangbild des Quartiers. Schon hier, an diesem noch den Charme des Morbiden verströmenden und doch so belebten Bahnhof ist die Faszination greifbar, die von dem alten Industrie-und Arbeiterbezirk Friedrichshain ausgeht.

Denn dieser Friedrichshain ist ein ambivalenter Ort: Gleichförmig und gegensätzlich, schön und schauerlich, Bohème und stinknormal. Ein Umzugs-Bezirk, aus dem viele weggehen und in den noch mehr kommen. Laut Statistik sind die Menschen, die es in den Friedrichshain zieht, ebenso wie die, die bleiben, vornehmlich jung, deutsch und wählen rot oder grün. Gemeinsam mit den Bewohnern der Verwaltungsschwester Kreuzberg kämpfen sie gegen das städtebauliche Großprojekt Mediaspree, den Gentrifizierungsprozess und kulturelle Konflikte. Im Friedrichshain treffen unterschiedliche Lebensstile ohne Migrationshintergrund aufeinander, mal einander verdrängend, mal entspannt, tolerant, bereichernd.

Besonders am Boxhagener Platz, ob Samstag Morgens beim Gemüsemarkt oder sonntags auf dem nachmittäglichen Flohmarkt, erscheint die Gegend zwischen Ostkreuz und Warschauer Straße als Kleinod, das an der "Prenzlauerbergisierung“ vorbei schrammen könnte. Noch sind die Cafés, Kneipen und Clubs erschwinglich, gibt es besetzte Häuser und alternative Wohnprojekte wie die Laster- und Hängerburg an der Ecke Modersohn- und Revalerstraße, Subkultur parallel zur Massenabfertigung. Zwischen Jungdesignerläden und In-Haarschneidern überleben alteingesessene Geschäfte. Pausbäckige, im Stil ihrer Eltern gekleidete Dreikäsehochs spielen in der Sandkiste und dem stillgelegten Brunnen, während sie von ihren Coffee-to-go-trinkenden Erziehungsberechtigten beaufsichtigt werden und ein paar Schritte weiter eine Gruppe Punks ihr erstes Mittagsbierchen einnimmt. Dieses meist friedliche Neben- und Miteinander macht die Gegend rund ums Ostkreuz so interessant.

Unweit der früheren Stalinallee mit ihren neoklassizistischen Prachtbauten am Frankfurter Tor und der daran anschließenden ‚Platte’ der späten DDR ist das Viertel geprägt von sanierten und noch unter Patina schlummernden Gründerzeitgebäuden. Ihre buntgemischte Bewohnerschaft zwischen alternativ und ganz normal spiegelt sich in den Ladengeschäften der Wohnstraßen. Hier finden sich viele kleine Galerien, Spätkäufe, Kindergärten, Miniproduktionsfirmen und Berliner Jungdesignershops neben Elektrokleinhandel, Reinigung und Blumenladen. In Spezialläden können Glückssteine, Gruftizubehör oder Hawaiihemden aus den Vierziger Jahren für den wahren Rockabilly erstanden werden.

Jeglicher Objektivität entbehrend kommt das Gefühl auf, dass sich nirgendwo in Berlin hinter statistischer Gleichheit so viel Diversität verbirgt wie hier. Der begonnene Gentrifizierungsprozess droht, diese Vielfarbigkeit erblassen zu lassen. Und dennoch hegt man, schaut man dem Treiben der Quartiersbewohner zu, die Hoffnung, dass sich dieser Teil Berlins seinen andersdenkenden Kern erhalten wird.

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