LANDSBERGER ALLEE

Bewegung und Stillstand

von Rachel Marks / Übersetzung von Julia Cornelius

Eine Stadt besitzt dann herausragende Qualitäten, wenn die gebauten Strukturen den urbanen Raum über seine bloßen Funktionen hinaus zu beleben vermögen. Der Europa-Sportpark Berlin (Velodrom/Schwimmhalle, gebaut in der Hoffnung auf die Olympischen Spiele 2000) an der Landsberger Allee schafft das mit Klasse und Originalität. Nicht nur wird die ansonsten durchaus triste Gegend – vorher lediglich durch die skandalumtoste Bauruine Aldo Rossis charakterisiert – deutlich aufgewertet; die einzigartige Anlage des französischen Architekten Dominique Perrault ist überdies sehr viel mehr als ein rein funktionaler Bau geworden.

Während Radfahrer und Schwimmer ihren Sport im Innern der in den Hügel versenkten Hallen perfektionieren, ist draußen auf dem Dach eine neue Subkultur entstanden.

Spätestens seit dem James-Bond-Film „Casino Royal" ist die Kunstform des Parkour in aller Munde, und hier in der Landsberger Allee bilden an einem grauen Sonntagnachmittag die Schritte, Sprünge und Salti der Jungs einen lebhaften Kontrast zu den behäbigen Passanten mit ihren Hunden, den verstohlen Händchen haltenden Teenagern und den einsamen Witwern. In kleinen Gruppen trainieren sie nicht mehr und nicht weniger als die Kunst der Bewegung, die Kunst, Raum, Geist und Körper zu vervollkommnen. Mit Parkour untrennbar verbunden ist das Bewusstsein für die urbane Landschaft. Die Stadt mit ihren leer stehenden Gebäuden, den Brachen und gebauten Strukturen bildet Bühne und Sportplatz zugleich. Indem der Traceur, der Läufer, seine Spur über Rampen, Dächer, Hügel und Treppen des Europa-Sportparks zieht, gibt er sich der Grätsche zwischen Mainstream und Subkultur, Legalität und Illegalität, Körper und Raum hin und lädt diesen Winkel Berlins energetisch auf.

Verlässt man die Ringbahn nun aber nicht zur Stadt hin, sondern nach auswärts – in Richtung der neonblauen Lichter eines seltsam deplatziert wirkenden Hotels, dessen heraus gelöste Lounge in der Nacht leuchtet wie ein kleines, gläsernes Raumschiff, vorbei an einer maroden, mit Graffiti überzogenen Baracke, die anmutet wie ein Billigsupermarkt, aber auch leerstehen könnte – über die breite Straße, dann endet die Stadt jäh, als sei hier luftleerer Raum. Der zerbröckelnde Backstein, das Quietschen der Züge, wenn Eisen auf Eisen trifft, verstärkt durch den allgegenwärtigen Rost, und das Grau und Braun städtischer Ambivalenz verblassen, statt dessen erblüht ein ruhiger Vorort mit grünen Bäumen, winzigen Häusern, gewundenen Straßen, in dem selbst die zwitschernden Vögel nicht fehlen. Einzig ein schwaches Summen (vielleicht nur eingebildet) gibt das in die Landschaft eingebettete Elektrizitätswerk zu erkennen; ein paar in der Nähe vorbei brausende Autos verraten, dass der Supermarkt wohl gleich schließt.

Die Traceure auf der anderen Seite der Ringbahngleise wissen wahrscheinlich gar nicht, dass sich nur ein paar Schritte entfernt, in drastischem Gegensatz zu ihrem Schauplatz der Urbanität, eine andere Welt eröffnet, der Friede des Volksparks Prenzlauer Berg mit seinen sich den Hang hinauf windenden Wegen. Der Blick von hier oben ist überwältigend: Riesige Plattenbausiedlungen dehnen sich bis zum Horizont, und die endlosen Reihen der Müllwagen auf dem BSR-Gelände schimmern im Licht der untergehenden Sonne.

Im Nordosten liegt der Friedhof Weißensee, Europas größte jüdische Begräbnisstätte. Und hier nun erreicht die Stille der Peripherie ihren Höhepunkt.

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