FRANKFURTER ALLEE

Rote Meile der anderen Art

von Gernot Schaulinski

Das „Zentrum" des Rings liegt an der Frankfurter Allee. Was nach der Quadratur des Kreises klingt, hat mit einem Einkaufszentrum namens Ring-Center zu tun, das beidseitig der Station emporwächst und sie in den Schatten stellt. Hier fand in Nachwendezeiten das statt, was man architektonisch als „Würfel-Husten" umschreiben könnte. Doch an der großen Straße Richtung Frankfurt/Oder wurde bautechnisch auch schon in den Jahrzehnten zuvor eher geklotzt als gekleckert. Entstanden ist eine rote Meile ohne die sonst üblichen Damen des Gewerbes.

Vorm westlichen Stationsausgang verläuft eine Gasse zwischen Bahnviadukt und der Steilwand des Konsumtempels; dicht gedrängt schieben sich die Passanten zur Allee. Deren Vorkriegsbebauung ist nur auf einem kurzen Straßenstück zu erahnen; die wenigen alten Häuser fallen neben den Retro-Plattenbauten mit ihren Erkern und Giebeln kaum auf. Zum Stadtzentrum hin verbreitert sich die Straßenschlucht nach einigen hundert Metern zum Prachtboulevard des Sozialismus, der ab dem Frankfurter Tor als Karl-Marx-Allee firmiert. Ursprünglich führte die Straße von den Außengrenzen der barocken Stadterweiterung Berlins zur weit entfernten „Colonie Friedrichsfelde". Die Verbindung diente den Preußen im 18. Jahrhundert als Heerstraße, bis die Russen sie 1945 auf ähnliche Weise nutzten. Hier lag einer der Angriffsschwerpunkte des sowjetischen Vormarsches auf die Schaltzentrale des Dritten Reiches. Um jeden Widerstand schon im Keim zu ersticken, zerschossen die Rotarmisten mit ihrer fahrbaren Artillerie Haus für Haus. Die Frankfurter Allee gehörte zu den am stärksten zerstörten Straßen der Hauptstadt.

„Gradaus zu Stalin führt der Weg, auf dem die Freunde kamen. / Nie soll'n sich in den Fenstern, / in den neuen, blanken, / die Feuer spiegeln! / Sagt, wie soll man Stalin danken? / Wir gaben dieser Straße seinen Namen." Im Jahr 1949 mühte sich der Lyriker Kurt Barthel (KuBa), mit einer devoten Hymne die deutsch-sowjetische Freundschaft herbeizudichten. Im Wiederaufbauprogramm für Ost-Berlin nahm die Frankfurter Allee eine herausragende Stellung ein — zur Stalinallee umbenannt sollten ihre Prachtbauten von der glorreichen Zukunft des Sozialismus künden. So ganz mochten die Bauarbeiter daran nicht glauben und demonstrierten am 16. Juni 1953 für höhere Löhne im diesseitigen Leben. Ein Protestakt in der Tradition sozialistischer Arbeitskämpfe wurde zum Ausgangspunkt für den Volksaufstand, der am folgenden Tag die ganze Republik erfasste.

Nach so einem Mobilisierungspotential schmachten die Teilnehmer der alljährlichen Liebknecht-Luxemburg-Demo, wenn sie ihre Parolen den gelangweilten Fensterbänklern entgegenschleudern („Bürger lasst das Glotzen sein, kommt herunter, reiht euch ein!"). Vom Frankfurter Tor aus ziehen Jungaktivisten und Ewiggestrige aller Rotschattierungen über die nach Stalins Tod wieder umbenannte Allee. Ihr Ziel ist die Gedenkstätte der Sozialisten auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde in Lichtenberg. Gerne lauert die Bereitschaftspolizei hinter dem Ringbahnviadukt, um überfallartig in den Demonstrationszug zu stürmen, wenn maoistische Kurden verbotene Plakate gen Himmel recken.

Die Ringbahn markiert hier eine städtebauliche Grenze; Plattenbauquartiere dominieren das Straßenbild auf der weiteren Strecke nach Osten. In den standardisierten Häuserriegeln passen die Bewohner gut aufeinander auf, das haben viele von ihnen früher beruflich praktiziert. Kurze Wege zum Arbeitsplatz machten diese Wohngegend so beliebt für tausende Stasi-Mitarbeiter. Zwischen Rusche-, Normannen- und Magdalenenstraße füllte das „Schild und Schwert der Partei" eine kleine Stadt, von der aus die Bespitzelung des Volkes organisiert wurde. Erich Mielkes original ausgestattete Büroräume können heute in einer Forschungs- und Gedenkstätte besichtigt werden — Ostalgie-Gefühle dürften hier nicht aufkommen. Wer an der Frankfurter Allee aussteigt, entdeckt eine rote Meile der ganz anderen Art.

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