NEUKÖLLN

Wo Schatten ist, da ist auch Licht

von Max Bach / Übersetzung von Julia Cornelius

Sein Ruf eilt dem Quartier voraus: Neukölln ist ein beliebtes Thema in Hauptstadtgesprächen, gilt es doch als Berlins "Problemviertel" (Es gibt nur eines?). Wie viele europäische Städte des 21. Jahrhunderts kämpft der Bezirk mit echten Schwierigkeiten und mit Vorurteilen: Immigration ohne Integration, Arbeits­losig­keit, Kriminalität, Gewalt, vernachlässigte Jugendliche. Als Ort sündiger Unterhaltung, zwielichtiger Gestalten und käuflicher Liebe galt schon Rixdorf, dessen schlechtem Ruf 1912 mit der Umbenennung des Viertels in Neukölln begegnet werden sollte. Mit nervöser Neugier also tritt der Flaneur aus der Ringbahn mitten in diese geschichten- und gerüchteumwobene Stadtwelt, die ihre Reputation den Außenseitern zu verdanken scheint.

Der imponierende, denkmalgeschützte Bahnhofsbau aus rotem Backstein liegt direkt an der Karl-Marx-Straße, die vor Fußgängern, Autos, Bussen und Straßenbahnen nur so brummt. Leute steigen um, gehen gleich nebenan in die nicht mehr ganz taufrischen Filialen großer Ketten oder verbringen ihren Tag an den Straßenecken, ein bisschen verdächtig wirkend, aber doch zugänglich. Der Tunnel unter den S-Bahn-Gleisen ist in seinem futuristischen Stahl-Design von überraschender Eleganz. Das gilt auch für die 1927 gebaute S-Bahnbrücke, die vom Senat jüngst eine Licht- und Kunstinstallation spendiert bekam, um die hohe Kriminalität an diesem Ort zu senken und das Image des Viertels aufzuwerten.

In die Karl-Marx-Straße geht man zum Einkaufen und Bummeln: Bis hinauf zum Hermannplatz reihen sich Einkaufszentren, Kaufhäuser, Ladenketten, 1-Euro-Shops, Friseurgeschäfte ("Pimp my Hair") und türkische, polnische, balkanische, afrikanische und asiatische Märkte und Restaurants aneinander. Die großen Handelsketten, die keine Filiale vor Ort haben, scheinen damit nicht einverstanden zu sein und bemühen sich mit riesigen Werbeschildern an den Hauswänden um Kompensation – teilweise zweisprachig auf Deutsch und Türkisch.

Von den zahlreichen Zerstörungen des 20. Jahrhunderts blieb Neukölln weitgehend verschont. So findet sich auf einer Seite der Karl-Marx-Straße noch heute das Böhmische Dorf, 1733 von protestantischen Flüchtlingen aus dem katholischen Böhmen gegründet. Die Vorkriegsatmosphäre des Ortes bewog 1979 den Regisseur Volker Schlöndorff, die hiesige Uthmannstraße in seiner oscarprämierten Filmadaption der "Blechtrommel" als Danzig zu besetzen. Trotz der Nähe zur lärmenden Karl-Marx-Straße wirkt dieses Fleck­chen Großstadt mit seinen zweistöckigen Häusern, weißen Holzzäunen und üppigen Hofgärten wie ein friedliches Dorf.

Auf der anderen Seite der Karl-Marx-Straße liegt der Körnerpark, die etwas andere Art anachronistischer Berliner Idylle. Ursprünglich gehörte das Areal Franz Körner, der es im 19. Jahrhundert profitabel als Kiesgrube nutzte und 1910 der Stadt vermachte, mit der Auflage, dass sein Name mit dem Gelände verbunden bleibe. Nicht immer gereichte ihm das zur Ehre: Vom Zweiten Weltkrieg an bis in die 1970er Jahre hinein ähnelte die Anlage eher einer verlassenen Halde als einem Park. Inzwischen wieder hergestellt, gewann sie ihre klassisch bürgerliche Gestalt mit Promenaden, Brunnen, Skulpturen und einer großen Rasenfläche (Betreten verboten!) zurück. Trotz dieser bourgeoisen Prägung ist der Park bunt bevölkert: Familien und Picknicker ruhen sich auf den kleinen zugänglichen Rasenhängen aus, verliebte Teenager kuscheln auf den Bänken, und ein beliebter Ort für Hochzeitsfotos ist er sowieso. Café und Kunstgalerie in der alten Orangerie und inter­nationale Live-Konzerte im Sommer sorgen für zeitgemäßes kulturelles Flair.

In dunklen Farben pflegen die Medien Neukölln zu zeichnen; dem Besucher aber offenbart sich ein farbiges Bild, in dem die sozialen Verwerfungen sichtbar sind, ohne zu dominieren. Bleibt zu hoffen, dass die Stadt nicht auf die Idee kommt, ihr "Problemkind" als Antwort auf das Negativimage einfach wieder umzutaufen, denn: Wo Schatten ist, da ist auch Licht.

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