SÜDKREUZ

Speer, Verkehr und Köttbullar

von Julia Cornelius

Ankommen am Südkreuz hat etwas Surreales – die weiten, fast leeren Bahnsteige unter der überdimensionierten Stahl-Glas-Halle, das selbst im Berliner Grau noch gleißende Licht, die vereinzelt herumstehenden, mit riesigen Paketen beladenen Reisenden ... der Erstbesucher wundert sich.

Der Ziele gibt es viele hier. Ein Ausgang führt zu einem Parkhaus, in das der Uhrenturm des alten Bahnhofsgebäudes von 1889 integriert ist. Ein anderer ins Betriebsgelände. Ein weiterer an einer hellen Betonwüste vorbei zu einem einsam stehenden, von Albert Speers »Germania«-Plänen und dem Zweiten Weltkrieg verschont gebliebenen Gründerzeithaus, in dem der ‚Club der Mittelalterlichen’ beheimatet ist, offensichtlich ein Verein für die besten Jahre. Der Bahnhof Südkreuz hat vor allem ein Ost und ein West. Der West- und Hauptausgang führt auf den von den Berliner Landschaftsarchitekten Topotek 1 gestalteten Hildegard-Knef-Platz ("Für mich soll´s rote Rosen regnen ...“). Dahinter entfaltet sich ein graues Panorama aus Gewerbegebieten und Stadtautobahn, und angesichts der Blechlawine zweifelt man, ob es die richtige Entscheidung war, als Fußgänger herzukommen. Dennoch: Per Pedes in einer Autowelt unterwegs zu sein, vermittelt ein intensives Gefühl von Urbanität. Der Ostausgang zur General-Pape-Straße mündet in einen schmalen Pfad, auf dem Passantenströme in Richtung eines blau-gelben Warenhauses ziehen, um schwedischem Möbeldesign zu huldigen. Die vielen schwer bepackten Menschen auf dem Bahnsteig ergeben auf einmal einen Sinn: Das ist die IKEA family! Samstags kann diese für den Warentransport vom Schweden zum S-Bahnhof übrigens "Kinderkulis“ in Anspruch nehmen, die sich für ein paar Euro pro Handwagenfahrt verdingen.

In Richtung der Völkerwanderung schweift der Blick über Gründerzeithäuser, den ehemaligen Rangierbahnhof Tempelhof, die Stadtautobahn und die erst vor wenigen Jahren entstandenen Möbelhäuser im neuen Gewerbegebiet – die Schichten der Berliner Stadtentwicklung liegen hier frei. Nur ein paar Schritte über eine Fußgängerbrücke beginnt das Südgelände: von der Natur zurückeroberte Stadt. Durch den eisernen Vorhang und das Ende des Industriezeitalters in einen forcierten Dornröschenschlaf versetzt, ist dieses Gebiet heute ein urbanes Zauberland. Entlang überwachsener Schienen und Drehscheiben des ehemaligen Rangierbahnhofs geht es in einen Wald hinein, an dessen Lichtungen sich der Lärm des Sachsendamms mit dem Rauschen der Bäume vermischt, alte Industrieschornsteine und große Reklame-Buchstaben wechseln sich ab. Eine Bürgerinitiative der 1980er Jahre hat dieses Gebiet und seine innerstädtisch einzigartige Natur vor der Rodung gerettet und zu einem eindrucksvoll eigenwilligen Naherholungsgebiet gemacht, das Natur, Kunst und Technik vereint.

Doch es hätte auch ganz anders kommen können: Das Südkreuz spielte eine zentrale Rolle in den Plänen Hitlers und Albert Speers für den Umbau der Reichshauptstadt Berlin. Entlang einer 120 m breiten durch Berlin geschlagenen Nord-Süd-Achse sollten alle wichtigen NS-Behörden, Firmenzentralen und Kultureinrichtungen angesiedelt werden. Am Kreuzungspunkt mit der Ringbahn war ein monumentaler "Südbahnhof“ geplant, größer als die New Yorker Central Station und über eine Breitspurbahn mit dem noch zu erobernden Moskau verbunden. Gegenüber dem Vorplatz hätte ein über 100 m hoher Triumphbogen als Eingangstor zum neuen Stadtzentrum gedient. Der riesige Betonzylinder des "Schwerbelastungskörpers“ in der General-Pape-Straße, mit dem die Tragfähigkeit des Bodens gemessen wurde, zeugt noch heute von dieser Megalomanie. Bei der Einstellung des »Germania«-Projektes im März 1943 waren die Pläne für den Südbahnhof fast baureif.

Heute, fast siebzig Jahre später, macht der Gedanke an das, was hätte sein können, froh über das, was ist.

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