WESTEND

Villenbesitzer und Hausbesetzer

von Gernot Schaulinski

Vor den Waggonfenstern fahren Autos mit der Ringbahn um die Wette, ganz tief liegen hier die Verkehrsadern in den Stadtkörper eingesenkt. Die Station Westend taucht als eine künstliche Insel im Fahrzeugstrom auf, hebt die ankommenden Besucher empor aus der lärmerfüllten Schlucht und zeigt mit ihrem alten Empfangsgebäude gleich, was diese Gegend seit dem 19. Jahrhundert ausmacht. Ohne weiteres könnte der 1884 im Stil der Neorenaissance errichtete Bahnhofsbau als prächtige Villa gelten. Im Innern holzgetäfelt und mit einer Kassettendecke versehen, beeindruckt das heute von Büros und einer Weinhandlung genutzte Gebäude mit einer Freitreppe, die Schlossqualitäten besitzt. Was an dieser Stelle außergewöhnlich wirkt, ist einige hundert Meter westlich der Stadtautobahn die Regel.

Berlins Streben nach Weltstadtniveau hatte stets etwas vom neidischen Blick über den Gartenzaun. So wurde auf einem Plateau des Grunewalds ab 1866 ein Londoner Nobelviertel fürs Großbürgertum nachgebaut. Die englische Klassengesellschaft hatte es auch den preußischen Eliten angetan, getrennt sollten die Stände in verschiedenen Wohngebieten leben. Ein wichtiger Grund für die Standortwahl lag in der Luft: Die Westwinde ließen keine Abgase aus den rauchenden Schloten der Industrie ins neue Viertel eindringen. Das schachbrettartig aufgeteilte Terrain wurde begrenzt von der Akazienallee im Norden, der Platanenallee im Süden, der Ahornallee im Osten und der Kirschenallee im Westen mit dem Branitzer Platz als Zentrum.

Als das Projekt zwei Jahre nach Gründung ins Stocken geriet, übernahm der norddeutsche Kaufmann Heinrich Quistorp die Leitung und machte mit seiner großspurigen Art die Siedlung zum Stadtgespräch. 1873 waren bereits mehr als 120 Villen errichtet. Der Börsenkrach im gleichen Jahr führte die Aktiengesellschaft und den persönlich haftenden Quistorp in den Konkurs; er wanderte nach Paraguay aus und gründete dort mit einem Dutzend Mitstreitern die Siedlung „Neu-Germanien“. Aber die Gegend erwies sich als ungeeignet: Sumpffieber, Moskitos und Erdflöhe zwangen die Kolonisten zur Einstellung ihres Projekts. 1885 kehrte der gescheiterte Glücksritter als verarmter, gebrochener Mann nach Charlottenburg zurück. Quistorp konnte hier bis zu seinem Tode 1902 miterleben, wie sich seine preußische Siedlung erfolgreich entwickelte. Marlene Dietrich und Johannes Heesters, Robert Koch, die Komponisten Arnold Schönberg und Kurt Weill, die Architekten Erich Mendelsohn und Albert Speer – sie alle und noch viele weitere bekannte Künstler, Politiker, Forscher und Intellektuelle haben in der großen Villenkolonie gelebt.

Gegenüber vom Westend liegt das Eastend. Es heißt zwar nicht so, aber der soziale Unterschied vom heutigen Villenbesitzer zum früheren Hausbesetzer lässt diese Bezeichnung für den Kiez rund um den Klausenerplatz durchaus zu. Das Engagement seiner Bewohner in den 70ern und frühen 80ern bewirkte eine Wende in der Berliner Baupolitik. In den fast vollständig erhaltenen Gründerzeitquartieren sollten die Bebauungen im Blockinnenbereich abgerissen werden, um sie durch moderne Sozialbauten mit Tiefgarage zu ersetzen. „Beton ist, was man daraus macht“ – auf diesen Slogan wollten die gekündigten Mieter nicht bauen und leisteten Widerstand. Die Gegend rund um die Danckelmannstraße wurde zu einem Hotspot der West-Berliner Hausbesetzer-Szene. Hinter die Barrikaden zogen Studenten, Künstler, Musiker, Artisten und Punks; teilweise lebte man nach Lebensstil separiert in einzelnen Häusern. Dort, wo die Abrissbagger bereits Hinterhöfe in Brachen verwandelt hatten, entstanden eigeninitiativ Grünflächen, wie der ländliche Ziegenhof in der Danckelmannstraße 16. Schon 1983 wurden die besetzten Häuser geräumt, aber auf den weiteren Radikalumbau des Kiezes verzichtete man. Viele ehemalige Besetzer leben hier heute noch; mit den Villenbesitzern der anderen Seite verbindet sie wenig. So nah und doch so fern können sich die Welten an der Ringbahn gegenüberliegen.

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