BEUSSELSTRASSE

Goldene Regeln für die Nachkommen des Proletariats

von Ralitsa Domuschieva und Julia Cornelius

„Die tristesten Dinge haben es mir angetan und liegen mir im Magen, Moabit und Wedding packen mich am meisten – diese interessante Nüchternheit und Trostlosigkeit“, äußerte 1927 der Maler Gustav Wunderwald über seine Motivsuche. An der Station Beusselstraße würde er auch heute noch fündig. Eine betonierte Brücke, die von ihren Ausmaßen her einem Autobahnkreuz zu entstammen scheint, überspannt die weiten Gleisanlagen. Nach Norden zu liegen die Justizvollzugsanstalten Charlottenburg und Plötzensee, letztere mit angeschlossener Gedenkstätte für die hier unter den Nazis Ermordeten. Von Süden blickt eine geschlossene Wand aus farblosen Gründerzeitbauten auf die Ringbahn herab. Moabits Schokoladenseite befindet sich weit entfernt am Ufer der Spree.

Für die aus Frankreich emigrierten Hugenotten war ihre vor Berlin gelegene terre de Moab seit dem frühen 18. Jahrhundert ein Zufluchtsort, an dem sie friedlich leben und ihre Religion frei ausüben konnten. Später wurden große Teile Moabits für militärische Zwecke genutzt; statt Landhäusern und Seidenraupenzucht prägten nun Kasernen, Exerzierplätze und die Schießpulverproduktion die Gegend. Mit Beginn der Industrialisierung und der Eingemeindung nach Berlin 1861 wuchs die Bevölkerung rasant. Großindustrielle entschieden damals, dass hier mit dem Bau von Mietskasernen stabilere und höhere Einkünfte als mit der Produktion zu erzielen seien – der Bezirk wurde überwiegend zum Wohngebiet für das Proletariat. In den engen, dunklen und überbelegten Quartieren wuchs der Zorn auf die sozialen Missstände. Doch es gab auch Licht im Dunkel der Bauspekulation: Alfred Messel, der berühmte Kaufhaus-Architekt und Planer des Pergamonmuseums, schuf für eine Wohngenossenschaft in der Sickingenstraße 7 und 8 eine noch heute zu besichtigende Reformwohnanlage zur Förderung des gemeinschaftlichen und gesunden Lebens der Arbeiter mit großzügigem Innenhof, Baderaum und Bibliothek; die Ein- bis Zweizimmerwohnungen verfügten über Innentoilette, Heizung und Balkon.

Der Beusselkiez war aber nicht nur Schlafkammer, sondern auch Werkbank für tausende Arbeiter, die in den Industrieanlagen von Moabit West Beschäftigung fanden. Monumentales Zeugnis dieser Zeit gibt die 1909 errichtete AEG-Turbinenhalle von Peter Behrens in der Hutten- und Berlichingenstraße. Unter vollständigem Verzicht auf die damals üblichen Zierelemente entstand aus Eisen, Glas und Beton ein konsequent moderner Bau, der in seinem Wechselspiel aus wuchtiger Erdung und leichter Transparenz noch immer zu beeindrucken weiß. Professoren, Studenten, Liebhaber und Bildungsreisende pilgern zu dieser Ikone der Industriearchitektur des 20. Jahrhunderts.

Ganz in der Nähe begannen 1910 mit einem Streik in der Kohlenhandlung Sickingenstraße 20-23 schwere Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern und Polizei. Die Straßenkämpfe weiteten sich auf das ganze Viertel aus und stellten einen Höhepunkt der sozialen Konflikte im Kaiserreich dar. Mit ungeheurer Gewalt ging die Polizei gegen die aufrührerische Bevölkerung vor und attackierte auch eine Gruppe englischer und US-amerikanischer Journalisten brutal, wodurch die Moabiter Unruhen internationale Bekanntheit erlangten. Nie zuvor habe er „eine so absolut blinde Wut“ der bewaffneten Staatsmacht gesehen, berichtete der Korrespondent der Daily News. Polizeipräsident von Jagow wies jeden Vorwurf zurück: „Der Ehrenschild unserer Schutzmannschaft ist rein. Sie hielt tadellose Manneszucht.“

Es geht auch anders: „In Moabit da gilt die Pflicht, gebrauche deine Fäuste nicht!“ lautet eine der Parolen, die das Programm Soziale Stadt im Rahmen des lokalen Projekts „Goldene Straßenregeln“ ausruft. Damit soll der nachbarschaftliche Zusammenhalt im problembehafteten Kiez gefördert werden. Die Arbeitslosigkeit beträgt rund 25 Prozent, in ein ehemaliges Fabrikgebäude ist das Job Center eingezogen. Ob am Ende eines Kiezspaziergangs das Resümee der „goldenen Regeln“ stehen kann: „Allen, allen ist jetzt klar, Moabit ist einfach wunderbar“?

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