WEDDING

Kultur im »Ghetto«

von Gernot Schaulinski

Bei der Einfahrt in den S-Bahnhof „Wedding“ mutiert der Ring zur Hochgeschwindigkeitsstrecke. Glas, Stahl, Beton – diese Station macht modernen ICE-Bahnsteigen alle Ehre. Der architektonische Auftritt findet sein Pendant in den Gebäuden eines benachbarten Pharmakonzerns. Fast scheint es, als sei der S-Bahnhof für das international operierende Unternehmen ein Tor zur Welt. Dabei beginnt die Reise über Kontinente schon auf offener Straße. Mit seinen vielen Einwanderern ist der Stadtteil das Kreuzberg des Nordens. Die Mundart changiert zwischen „Icke“ und „Isch“ – bunt, ehrlich und preisbewusst geht es im Wedding zu. Hier tragen Dönerspieße ihr Fleisch mit Stolz, die Masse an Jogginghosen erweckt den Eindruck einer endlosen Sportveranstaltung, und in den Telecafés wird, der Lautstärke nach zu urteilen, mit fernen Erdteilen eher direkt gesprochen als telefoniert.

Bei aller Vielfalt und Geschäftigkeit gilt der Wedding als Problemstadtteil, seine Geschichte verlief wechselhaft. Auf Geheiß des Adligen Rudolphus de Weddinge um 1200 gegründet, bewahrt der Ort seine blaublütige Herkunft bis heute im Namen. Bereits die frühesten Urkunden erwähnen den noch jungen Wedding als verlassene Siedlung. Nach dem Besitzerwechsel vom Kloster Spandau zur Stadt Berlin 1588 berappelte sich das Gut wieder, doch nicht lange darauf ruhte der Ackerbau erneut. Erst Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte sich der Ort mit der Gründung einer Kolonie durch Friedrich den Großen weiter. Hundert Jahre später war der Wedding zu einem Berliner Arbeiterbezirk geworden, berühmt und berüchtigt für seine Mietskasernen. Seit 1870 wuchs die Bevölkerung in nur vier Jahrzehnten um das Fünfzehnfache.

Zu dieser Zeit hätte der Stadtteil ein großes Fragezeichen im Wappen tragen können, denn die soziale Frage stellte sich hier besonders drängend. Sozialisten und Kommunisten boten Antworten und prägten die politische Kultur. Der Wedding wurde zu einer roten Insel. Hier fuhr die KPD die höchsten Wahlergebnisse ein, Konflikte mit dem Staat blieben nicht aus. Am 1. Mai 1929 provozierten kniehohe Barrikaden in der Kösliner Straße einen Gewaltexzess der Polizei mit 11 Toten, benannt als Blutmai. „Roter Wedding, grüßt euch Genossen, haltet die Fäuste bereit!“ – mit ihrem Kampflied schufen Hanns Eisler und Erich Weinert den Evergreen des deutschen Kommunismus. Immer wieder und wieder wurde das Stück bei Politveranstaltungen und Aufmärschen gespielt. Die Nazis schrieben den Text um, in der DDR blieb „Der rote Wedding“ ein Hit.

Heute beherbergt der traditionsreiche Arbeiterbezirk kaum noch Arbeiter, rund 40 Prozent seiner Einwohner sind auf Sozialleistungen angewiesen. Der hohe Migrantenanteil, die Armut und eine wenig schmeichelhafte Kriminalstatistik haben dem Stadtteil den Ruf eines „Ghettos“ eingebracht. In Sichtweite der Ringbahn inszeniert ein Theater dieses Klischee in der höchst erfolgreichen Seifenoper „Gutes Wedding, schlechtes Wedding“. Die Handlung der unzähligen Folgen zeigt eines deutlich: auf ihrer populistischen Suche nach „der deutschen Bronx“ müssen Politiker weiterziehen. Der Stadtteil ist arm, unsexy und rau – ein Katastrophengebiet ist er nicht. Im Gegenteil bietet er vielen jungen Künstlern und Kreativen die Freiräume, die anderswo längst verschwunden sind. Ateliers, Galerien, Kulturvereine und Lesebühnen laden zum Austausch ein, in den Cafés und Bars treffen sich Enthusiasten aller Couleur. Ein spannendes Quartier mit längeren Wegen zwischen den Kultur-Inseln. Der Wedding ist wohl kein zukünftiger Prenzlauer Berg, aber er bewahrt dessen verflogene Aufbruchstimmung und Experimentierfreude, die Berlins Image weltweit prägen.

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