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Disneyland am Halensee – die Geschichte von Europas größtem Vergnügungspark

von Gernot Schaulinski

Eines der beliebtesten Ausflugsziele der Berliner war seit 1880 der Halensee. Was mit einigen Lokalen und Jahrmarktsbuden am Ufer begann, sollte bald das Hauptstadtleben prägen: „Der Berliner Frühling erhält seine Sanktion als eine Jahreszeit des »Amüsemangs« durch die Eröffnung des größten Rummelplatzes, des Lunaparks, der sich hinter der Halenseer Brücke erhebt, eine Pointe des Kurfürstendamms, vom Gott der Sensationen hingesetzt an den Ausgang dieser Allee, die wie ein unendlich langes Versprechen von Sensationen anmutet.“ (Joseph Roth, Stunde im Frühlingsrummel, in: Frankfurter Zeitung, 16. Mai 1924). Fast auf den Tag genau 20 Jahre zuvor hatte der Gastronomiekonzern Aschinger am Halensee ein Terrassenrestaurant für das Massenpublikum eröffnet. Pächter wurde der umtriebige Bernhard Hoffmann, ein ehemaliger Küchenchef aus dem Hause Kempinski. Als „Sensationen“ galten bis dato Karussell, Rutschbahn, Schießbude und „Hau den Lukas“ – kleine Sehnsuchtsorte für Kinder, die am Eingang auf Paare ohne Nachwuchs lauerten, denn in Begleitung von Erwachsenen war der Eintritt frei!

In nur wenigen Jahren entwickelte Hoffmann mit Hilfe einer Aktiengesellschaft den beschaulichen Dauerjahrmarkt zum hoch technisierten Vergnügungsbetrieb „Luna-Park“. Elektrisch betriebene Wägelchen rutschten als frühe Autoskooter über die Blechoberfläche des „eisernen Sees“. Damen, die mit der wackeligen „Shimmy-Treppe“ abwärts schwebten, wehte ein Gebläse den Unterrock in die Höhe. Jenseits aller Political Correctness wurden exotische „Völkerschauen“ präsentiert, vollführten „echte Neger“ im Somalidorf Eingeborenentänze, begleitet von Tierdressuren. Gerüchteweise servierten die menschlichen Darsteller abgeschminkt als „echte Bayern“ gleich nebenan Bier und Radi. Die Berliner strömten täglich zu Tausenden aus den Ringbahnzügen in den nahe gelegenen Luna-Park, denn ein Besuch versprach nicht nur Abwechslung vom Arbeitsalltag, sondern ließ auch für Stunden die Klassenunterschiede der wilhelminischen Epoche vergessen. Hier konnte sich jeder Gast wie ein kleiner Kaiser fühlen, und die Oberschicht amüsierte sich köstlich auf volkstümliche Art.

Nach dem Ersten Weltkrieg lockte Europas größter Vergnügungspark sein Publikum mit weiteren Attraktionen, Konzerten und Sportveranstaltungen. Max Schmeling boxte sich hier 1926 bei der deutschen Meisterschaft im Halbschwergewicht in nur 30 Sekunden zum ersten Titel. Neue Fahrgeschäfte kamen hinzu, spektakulär dekoriert von expressionistischen Künstlern wie dem Maler Max Pechstein. Die nervenaufreibende Berg- und Talbahn mit ihren aufwendigen Kulissen inspirierte den Publizisten Siegfried Kracauer zu Reflexionen über den schönen Schein: „Im Lunapark von Halensee erhebt sich zwischen dem Wellenbad und der Reitbahn ein gemaltes New York. Bunt und schwindelhaft fahren die Wolkenkratzerfassaden zum Nachthimmel empor. [...] Pfosten, Streben, Balken: der Kern der herrlichen Fronten ist ein Gerüst. Soeben noch hatte die Wunderstadt geprunkt, und nun enthüllt sich das kahle Skelett. Das also ist New York – eine angestrichene Fläche und dahinter das Nichts?“ (Berg- und Talbahn, in: Frankfurter Zeitung 14. Juli 1928).

Mit den Jahren verblassten die bunten Fassaden. Aufgrund der Weltwirtschaftskrise von 1929 unterblieben weitere Investitionen, so dass die Besucherzahlen dramatisch sanken. Lange war der Luna-Park von völkischen Krawallpolitikern als Inbegriff der dekadenten „Kurfürstendamm-Kultur“ geschmäht worden. Nach dem Bankrott der Betreibergesellschaft übernahmen nun die Nationalsozialisten 1933 das Ruder. Ein braves Erholungsgebiet für Volksgenossen sollte die moralische Wende bringen: Trachtengruppen drehten sich im Kreis, Blaskapellen strapazierten das deutsche Liedgut ... die Berliner waren anderes gewohnt. Wegen mangelnder Resonanz schloss der Park im Oktober desselben Jahres für immer seine Pforten, um bald darauf vollständig abgerissen zu werden. Heute rauscht die Stadtautobahn über den einst legendären Ort.

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