RÜCKBLICK
1945-1960: Im Spannungsfeld des Kalten Krieges
von Gernot Schaulinski
Das Auferstehen aus Ruinen gestaltete sich für die Berliner Ringbahn in der Nachkriegszeit äußerst schwierig: es fehlte an qualifiziertem Personal, auch Ersatzteile waren so gut wie nicht zu beschaffen. Hinzu kamen die Beschlagnahmungen und Demontagen von sowjetischer Seite, unter deren Kontrolle das gesamte S-Bahnnetz stand. Viele Ringbahnzüge fuhren bald in Estland, verbanden polnische Städte und kamen auf der Strecke Kiew-Bojarka zum Einsatz, geschmückt mit rotem Stern und Stalin-Portrait. Trotz der vielen Kriegsschäden gelang es bis Februar 1946 den Ring durchgehend befahrbar zu machen. Die Züge rollten wieder, allerdings schlecht gewartet und technisch überbeansprucht. Es kam zu zahlreichen Unfällen, die auch durch die ständige Überfüllung der Ringbahn verursacht wurden. Am 30. Oktober 1946 begegneten sich zwischen Gesundbrunnen und Schönhauser Allee zwei Züge, aus deren geöffneten Türen Fahrgäste lehnten. Sechs Menschen wurden dabei aus den Wagen gerissen und tödlich verletzt.
Der Ring verband schon bald zwei sich feindlich gegenüberstehende Systeme. Betrieben wurde die S-Bahn weiterhin von der Deutschen Reichsbahn (DR), deren Berliner Netz der sowjetischen Besatzungsmacht zugeschlagen worden war. Im aufziehenden Kalten Krieg ergaben sich daraus Probleme, denn in den Sektoren der Westalliierten arbeiteten 12.000 Beschäftigte eines von der Gegenseite kontrollierten Unternehmens. Nachdem die Ost-Mark im März 1949 als gültiges Zahlungsmittel in den Westsektoren abgeschafft worden war, forderten die dort lebenden Eisenbahner ihre Entlohnung in DM (West). Die Reichsbahndirektion lehnte diese Forderung ab, woraufhin es in der Nacht zum 20. Mai 1949 zum Streik kam. Mit radikalen Methoden unterbrachen die wütenden Angestellten den Verkehr auf der Ringbahn: an der Station Wilmersdorf (heute: Bundesplatz) gingen Schienen und Stromkabel entzwei, von der Badstraßenbrücke am Gesundbrunnen wurden schwere Zementblöcke auf die Gleise geworfen, das Schaltwerk Putlitzstraße (heute: Westhafen) glich nach dem Besuch der Streikenden einem Trümmerhaufen. Auf diese Angriffe gegen Anlagen und auch Personen reagierte die ostdeutsche Bahnpolizei vielfach mit der Schusswaffe, schon bald gab es Tote und Verletzte. Am 28. Juni wurde der Streik ergebnislos abgebrochen. Rund 1400 beteiligte Eisenbahner verloren ihre Arbeit; die Währungsangleichung der Löhne erfolgte erst 15 Jahre später.
Eine weitere Protestbewegung erlebte die Ringbahn am 17. Juni 1953, als sich Bauarbeiter aus ganz Ost-Berlin in Richtung Stadtzentrum aufmachten, um an Demonstrationsmärschen gegen die Erhöhung der Arbeitsnormen teilzunehmen. In dieser kritischen Situation beschloss das DDR-Regime, den Zugverkehr komplett einzustellen. Um 11 Uhr morgens wurde im gesamten Netz der Fahrstrom abgeschaltet – auf der Ringbahn standen die Räder still. Erst am 22. Juni rollten die Züge wieder durchgängig. Die westliche Presse berichtete in der Folgezeit zunehmend kritisch über die S-Bahn. Ein Beispiel hierfür bietet ein Artikel über den Ersatzverkehr mit Dampfzügen auf der Ringbahn zwischen Westend und Gesundbrunnen aufgrund eines Brückenneubaus: "Vorne und hinten je eine Lokomotive, dazwischen vier doppelstöckige D-Zugwagen Marke Ostfabrikat: So sind noch nicht einmal Berlins Ureinwohner jemals S-Bahn gefahren. [...] Man nennt diese Wagen auch Sputniks – weil sie im Außenring rund um Berlin ihre Bahn ziehen. In dieser eigenartigen Vor- und Nachkriegskombination schaukelten die Fahrgäste ähnlich wie eine Dampferkabine zwei Tage lang von West nach Nord." (in: Der Abend, 17. November 1958). Die Polemik barg einen wahren Kern, denn die Entwicklung der Ringbahn war von Stagnation geprägt. Zwar wurden alte Gebäude saniert, Ruinen abgetragen und durch Neubauten ersetzt, doch bei weitem nicht in dem Maße, wie der Verfall voran schritt. Auf ausgeleierten Schienen rollten Züge aus der Frühzeit der Elektrifizierung – das einstmals modernste Verkehrmittel der Welt alterte sichtlich.