RÜCKBLICK

1960-1980: "Das kommunistische trojanische Pferd"

von Gernot Schaulinski

Einsam und verlassen steht im November 1961 ein leerer Ringbahnzug zwischen der Ost-Berliner Station Treptower Park und dem Bahnhof Sonnenallee im Westteil der Stadt. Seit mehreren Monaten schon fließt auf diesem Streckenabschnitt kein Strom mehr, denn die Gleise sind an der Sektorengrenze und an der östlich davon gelegenen Station durchgesägt worden. Erst jetzt im Spätherbst werden die Anschlüsse zum Bahnhof Treptower Park provisorisch in Stand gesetzt, um den liegen gebliebenen Zug mit Hilfe einer Diesellok in den Fahrdienst zurückzuziehen.

Seit Gründung der DDR hatten rund 2,6 Millionen Menschen in einer "Abstimmung mit den Füßen" den sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat verlassen. Sie flüchteten bevorzugt über Berlin, denn nirgendwo sonst war der Systemwechsel so einfach, eine kurze Fahrt mit der S-Bahn genügte. Am 13. August 1961 erreichten um 2 Uhr nachts irritierende Meldungen das Lagezentrum der West-Berliner Polizei: zwischen den Bahnhöfen Gesundbrunnen und Schönhauser Allee verkehrten keine Ringbahnzüge mehr. Bald darauf trafen ähnliche Informationen über den Streckenabschnitt Sonnenallee – Treptower Park ein. Schienen wurden von Soldaten aus dem Gleisbett gehoben und abtransportiert, die entstandenen Lücken mit Stacheldrahtrollen, Barrieren und Panzersperren verriegelt. Der Bau der Berliner Mauer sollte die Ringbahn für 28 Jahre unterbrechen.

In dieser Situation hielt Bürgermeister Willy Brandt am 16. August vor dem Schöneberger Rathaus eine Rede, zu der sich 300.000 Menschen versammelten. Er protestierte gegen die Maßnahmen der DDR-Regierung und forderte die Westmächte zu klaren Reaktionen auf, dazu gehöre auch die Aufhebung des Sonderstatus der Deutschen Reichsbahn, dem "kommunistischen trojanischen Pferd" in West-Berlin. Einen Tag später rief der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) zum Boykott auf: "Fahr nicht S-Bahn – Du bezahlst sonst Ulbrichts Stacheldraht!" oder "Keinen Pfennig mehr für Ulbricht" stand auf Plakaten zu lesen. Passanten wurden auf ihrem Weg zum Bahnsteig von stämmigen DGB-Mitgliedern wüst beschimpft und sogar verprügelt. Die Fahrgastzahlen sanken innerhalb weniger Tage um 80 Prozent, gleichzeitig mussten die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) in Westdeutschland Reisebusse anmieten, um die vielen Neukunden befördern zu können. Der Boykott bot dem Volkszorn ein Ventil, ohne dass es zu direkten Auseinandersetzungen an der Grenze kam. Aufgebrachte West-Berliner randalierten in Zügen und auf Bahnhöfen – zerstörte S-Bahn-Wagen mit heraus gebrochenen Bänken und eingeworfenen Scheiben gehörten in diesen Tagen zum Alltagsbild auf dem Ring. Bald legte sich die handgreifliche Empörung über den Mauerbau, der Boykott aber blieb bestehen und wurde zu einem festen Bestandteil der West-Berliner "Frontstadt-Mentalität". Daran vermochte auch die 1969 unter Bundeskanzler Willy Brandt eingeläutete Entspannungspolitik nichts zu ändern.

Zu Beginn der 1970er Jahre existierten in der "Siamesischen Stadt" (David Clay Large) zwei Ringbahnwelten. Der östliche Teilring war auf seinen 8,5 Kilometern zwischen Schönhauser Allee und Treptower Park zur Nord-Süd-Strecke mutiert, mit dem Ostkreuz als zentralem Umsteigebahnhof. Die stark frequentierte S-Bahn war das wichtigste Verkehrsmittel der "Hauptstadt der DDR". Im Westen dagegen rumpelten fast menschenleere Kurzzüge zwischen den verwitternden Bahnhöfen hin und her, während entlang der Strecke die neue Stadtautobahn entstand. Unter großen Schildern, die nach Hamburg oder Hannover wiesen, wurden Bushaltestellen für die Linie 65 eingerichtet, die als Konkurrenz zur Schiene die Stationen vom Wedding bis Neukölln bediente. Der Betrieb des West-Berliner Teilrings entwickelte sich zu einem teuren Zuschussgeschäft für die DDR, deren wirtschaftliche Probleme immer drängender wurden. Mitte der 1970er Jahre erging ein Verkaufsangebot an den West-Berliner Senat, der aufgrund des hohen Preises ablehnte. Die Reichsbahn investierte in der Folgezeit kaum noch in Gebäude und Gleisanlagen. An den Enden der Bahnsteige wuchs das Gras.

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